„Das ist ja Wahnsinn. Immer hektischer presst mein Nachbar die vom
Körper erhitzte Luft aus seinen Lungen, immer häufiger schleichen
sich stöhnende Laute in den stampfenden Rhythmus seiner Laufschuhe
auf megasteilem Asphalt. Ein Blick zur Seite zeigt: Der läuft am
Limit.
Am Limit seiner Kräfte, am Limit seiner Vorstellung, was ihm möglich
ist. Dabei haben wir erst 15 Kilometer von 42,195 Kilometern hinter uns.
Etwas mehr als ein Drittel der Premiere des LGT-Alpin-Marathons in Liechtenstein
am 17. Juni 2000. Ein Marathon, der wie der Klassiker Jungfrau-Marathon
in der Schweiz die Sportler ebenso über 1800 Höhenmeter in die
dünnen Lüfte zwingt, aber anders als der schweizer Bergklassiker
die Läufer zwischendurch 650 Meter wieder abwärts schickt. Auch
wenn die rund 1800 Höhenmeter dieser beiden Veranstaltungen identisch
sind, das unterschiedliche Profil fordert neue läuferische Qualitäten,
meint Hannes Willinger (42), Initiator des LGT-Alpin und selbst fünffacher
Finisher des Jungfrau-Marathons. Während die Schweizer die Läufer
vor dem Gipfelsturm zur Kleinen Scheidegg hinauf in 2091 luftige Meter
zuvor im Tal einen ausgewachsenen Halbmarathon laufen lassen, verkürzen
die Liechtensteiner die Flachetappe bis zum Berg durchs Rheintal auf einen
10-Kilometer-Lauf vom Start bei Schaan weitestgehend über
den Rheindamm bis nach Vaduz, wo sich am frühen Morgen (Start war
um 9.30 Uhr) Einheimische und Touristen an die Strecke verirrten.
Auch mir rinnt der Schweiß, genauso wie meinem immer häufiger
stöhnenden Mitstreiter, unablässig von der Stirne über
die Nasenwurzel in die Augen. Das Singlet hat sich am Rücken verklebt.
Es ist heiß an diesem Morgen, über den bizarren, schneeweißen
Kanten und Spitzen der Liechtensteiner Alpen spannt sich ein blankgeputztes
Stahlblau. Und hier unten in den Serpentinen der kleinen Fahrstraße
zwischen Vaduz und dem 20-Häuser-Dorf Rotenboden steht die Luft.
Endlich Wasser, und auch die Steigung lässt hinter der Trinkstelle
etwas nach. Fünf Kilometer bin ich nun seit den malerischen, steilen
Gässchen durch Vaduz am hiesigen Triesenberg unterwegs. Seit dem
erhaben gelegenen Schloss Vaduz, an dem sich die Pressefotografen tummelten
und stapelten, kletterten die knapp 500 Starter (369 im Ziel) 500 Höhenmeter
hinauf.
Bloß nicht ans Ziel denken, nur an den nächsten Schritt. Immer
wieder streift mein Blick die Pulsuhr, ich habe noch zehn Schläge
Karenz bis ans anaerobe Maximum. Ich tripple in kurzen Schritten und habe
dadurch genügend Schwung. Das ist ja Wahnsinn, stöhnt
es plötzlich neben mir und mein Nachbar geht.
Ich hoffe inständig, dass sich mein verhaltener Start im Tal mit
einem Schnitt von fünf Minuten pro Kilometer auszahlt. Denn für
mich zählt heute nicht die Zeit, sondern die Strecke ist das Ziel
und die will ich ohne quälende Durchhänger und Gehpausen gut
überstehen.
Während sich meine Beine mechanisch mal über breitere Fahrwege
zwischen saftig grünen Wiesenhängen, mal über schmale Pfade
unter dichtem Nadelwald Schritt um Schritt nach oben kämpfen, schweifen
Blick und Gedanken in die Ferne. Ich erinnere mich an die beiden Marathon-Hitzeschlachten
am 14. Mai in Mainz und 3. Juni in Regensburg, die ich als Vorbereitung
in meinem Trainingsplaner rot angestrichen hatte. Das Training hatte ich
in den letzten drei Wochen verschärft mit Laufeinheiten an drei aufeinanderfolgenden
Tagen nie unter zwei Stunden, immer in kupiertem Gelände mit einem
An- und Abstieg von 300 Höhenmeter dabei. Danach ein Ruhetag, dann
zwei Tage Mountain-Biken mit Anstiegen für die Beinkraft, wieder
Ruhetag und dann begann die neue Woche mit dem Laufpensum von vorn.
Ob es sich auszahlt? War die Vorbereitung richtig? Zumindest im Mittelfeld,
in dem ich mich zeitlich bewegte, mussten immer mehr Teilnehmer gehen,
während ich noch lief.
Bei Kilometer 20 endlich kommt Bewegung in die kräftezehrende Monotonie.
Ab der Silumer Kulm in 1539 Metern Höhe geht es erstmal hinab. Ein
schmaler Wanderweg schlängelt sich in das 239 Meter tiefer gelegene
Tal, dass der Bach Samina über zehntausende von Jahren gegraben hatte.
Meine Schritte werden länger, in den Oberschenkeln zieht´s.
Doch noch laufe ich vergleichsweise rund und beginne zu überholen.
Plötzlich von hinten ein fröhliches Trällern: Darf
ich vorbei? Die Startnummer 162, eine Läuferin der W50-Klasse
aus dem schwäbischen Ludwigsburg rast leichtfüßig an mir
vorbei, so als wäre sie eben erst gestartet.
Doch so schnell wie der Abstieg kam, ist er auch wieder vorbei. Flach
führt nun ein Fahrweg zur Hauptstraße, die Vaduz mit dem Marathon-Ziel
und Ski-Zentrum Malbun verbindet. Nach 25 Kilometern Einsamkeit in der
Liechtensteiner Bergwelt weht ein Hauch Zivilisation herüber. Applaus,
Rasseln und Kuhglocken-Gebimmel feuern die Berg-Marathonis an. An dieser
fürs Auto bequem erreichbaren Verpflegungsstelle in Steg herrscht
Volksfeststimmung.
Die Verpflegung ist perfekt, nie keimte in mir das Gefühl von Durst
auf. Auch Energie konnten die Läufer immer reichlich tanken. Bananen
und Äpfel standen ausreichend bereit. An dieser Stelle griff ich
mit beiden Händen zu. Eine halbe Banane rein in den Mund, eine andere
als Reserve in die Hand. So lief ich mit zwei gefüllten Hamsterbacken
über den gemäßigt ansteigenden Pfad parallel zum Fluß
Samina, der sich plötzlich durch eine tiefe Schlucht hinunter ins
benachbarte Österreich verabschiedet.
Zum Glück ist es hier nicht so steil wie auf dem ersten Stück,
denke ich und dieser Gedanke ist wohl geboren aus den bislang dreistündigen
Strapazen. Das Stück bergab verlieh mir Flügel, doch jetzt wirken
die Beine schwer wie Blei. Wo mögen jetzt die Sieger stecken, was
haben diese austrainierten Bergziegen heute für ein Gefühl?
Während sich diese Fragen im Takt der Schritte durch meine Gehirnwindungen
schieben, läuft Urs Christen mit hochgerissenen Armen in Malbun locker
als Erster ins Ziel. Seine Zeit: 3:04:50 Stunden, erfahre ich später,
6:47 Minuten schneller als der Zweite Markus Joos. Für mich ist diese
Leistung bis heute ein unvorstellbares Spiel aus Kraft und Willen. Da
kämpfen tausende von Marathonis mit ihrem Traumziel, mal unter drei
Stunden 42,195 Kilometer zu laufen und dieser Urs läuft diese Zeit
auch noch bergauf. Zum Vergleich: Der Bus zurück ins Tal, bergab
und auf einer kürzeren Route, benötigte eine Stunde. Aus meiner
sportlichen Perspektive ist die Leistung eines Urs Christen einfach unmenschlich.
Dabei sieht der 37-jährige eigentlich ganz menschlich aus, wie er
so beim Interview zufrieden auf der Bierbank sitzt. Der Schweizer Bergmeister
hatte schon beim Jungfrau-Marathon viel Erfahrung gesammelt. 1996 belegte
er mit 2:58 Stunden den zweiten Platz, 1998 mit 3:04 Stunden den fünften
Platz. Fast die gleiche Zeit wie beim LGT-Alpin und trotzdem: Das
hier ist ein anderer Lauf, unterstreicht er die Meinung des Veranstalter-Chefs.
Hier muss man sehr konzentriert laufen, wegen der Bergab-Passagen.
Allerdings vermisste Christen ein wenig das erhabene Ziel. Beim Jungfrau-Marathon
kommt man ganz oben an, das Ziel im Liechtensteiner Malbun dagegen liegt
in einer Talsohle.
Dies bestätigt auch die schnellste Frau an diesem Tag, Vroni Steinmann,
die mit ihren 44 Jahren den LGT-Alpin in 3:48,50 Stunden lief. Auch sie
rannte schon mal beim Jungfrau-Marathon als zweite ins Ziel (3:41 Stunden),
doch die Liechtensteiner Berghatz ist ihr lieber. Während der
Jungfrau-Marathon wegen des langen Flachstücks im Tal Straßenspezialisten
entgegenkommt, gewinnt beim LGT-Alpin der Sportler mit viel Kraft,
interpretiert das athletische Allround-Talent ihre Erfahrung mit den Liechtensteiner
1888 Höhenmetern und 650 Meter bergab auf 42,195 Kilometer.
Sie selbst ging das Rennen im Rheintal sehr verhalten an. Ich bin
keine schnelle Läuferin, ich verbringe mehr Stunden mit dem Training
auf dem Rad als in Laufschuhen. Was ihr letztlich die nötige
Power in den Oberschenkeln für den Sieg in Liechtenstein bescherte.
Während die beiden Tagessieger in einem der wenigen Duschzelte verschwinden,
winde ich mich immer noch bergauf. Jetzt ist Hüttenzauber angesagt,
von den Almen jubeln die Wanderer. Bei Kilometer 35 mündet der breite
Fahrweg in einen Pfad, der Puls kocht am Anschlag, Reserven habe ich keine.
Und dieses verdammte Ding wird und wird immer steiler. Nichts ist es mit
dem Planziel, alles zu laufen. Wie die anderen um mich herum unterstütze
ich den Gehschritt mit einem Händedruck auf die Knie. Der Oberkörper
ist dabei weit vorn übergebeugt. Und trotzdem, der Puls zeigt Maximum.
Erst als die Läuferschlange das 1764 Meter hoch gelegene Fürkle
erreicht, ist an Durchatmen zu denken. Doch nach diesem Hammer ist mein
Schritt alles andere als geschmeidig und wieder rauscht die Startnummer
162 an mir vorbei. Woher nimmt die W50-Läuferin aus Ludwigsburg bloß
diese Energie?
Eine Energie, die die Kraft nicht alleine aus den Muskeln zehrt, sondern
aus dem Willen, etwas Besonderes zu vollbringen. Diese Kraft ist allen
Teilnehmern gleich, egal ob er Urs Christen heißt oder Shirley Sirois,
die extra aus Springborn in den Vereinigten Staaten nach Europa anreist,
um nach 7:12, 16 Minuten auf der Liechtensteiner Marathon-Strecke einen
persönlichen Sieg über sich und den inneren Schweinehund
zu feiern.
Auch Veranstalterchef Hannes Willinger besitzt mit seinen 48 Jahren viel
von dieser besonderen Kraft. Nicht nur weil er nach seiner aktiven Zeit
als Rad-Amateur schon 20 Jahre den Laufschuhen die Treue hält und
damit fünfmal die Kleine Scheidegg des Jungfrau-Marathons eroberte.
Nein, vielmehr deshalb, weil er aus diesem Erlebnisreichtum heraus für
uns Läufer ein neues Erlebnis kreierte den LGT-Alpin-Marathon.
Die Idee hatte Schullehrer Willinger bereits vor knapp zwei Jahren. Alleine
zog er durch das 160 Quadratkilometer kleine Liechtenstein, das auf 25
Kilometern Länge, 12 Kilometern Breite und 2600 Metern Höhe
insgesamt 32000 Einwohnern Platz bietet. Er hat verschiedene Streckenabschnitte
ausgekundschaftet, hat sich nach möglichen Startorten umgesehen,
die er abhängig von den späteren Sponsoren wie ein Puzzle zusammenfügen
konnte. Nach einem Jahr intensiver Brüterei hat er das Projekt bei
einem Testlauf seinen Sportskameraden vorgestellt. Der Funke sprang über,
im Herbst 1999 gründete Willinger einen Verein bestehend aus 19 Organisationsmitgliedern.
Und die Sponsoren waren auch schnell bei der Hand. Die Liechtensteiner
Bank kaufte sich als Titelsponsor ein, was den Läufern für ihr
Startgeld eine Menge hochwertiger Andenken bescherte. Neben dem vergoldeten
LGT-Schlüsselanhänger und dem T-Shirt durften sich die Finisher
an einem aus Kristallglas mit Goldfassung geschliffenen Minilaufschuh
freuen.
Auch ich freute mich riesig, als ich die Wortfetzen aus dem Streckenlautsprecher
hier oben vernahm. Zu früh gefreut: Denn die Strecke führt auf
Tuchfühlung am Ziel vorbei, nochmals brutal bergan auf eine Vier-Kilometer-Schleife
am Talrand entlang ständig mit Zielort Malbun im Blick.
So wie man einen störrischen Esel mit Rute und Mohrrübe in Bewegung
setzt, treibt mich das ständig greifbare Ende des Marathons nochmal
an. Kilometer 38, Kilometer 39, Kilometer 40 die letzte Steigung
ist geschafft, ich stapfe durch ein Schneefeld. Und plötzlich Halt:
Obwohl es jetzt nur noch abwärts geht, krampft die Wade, Seitenstechen
reißt in den Eingeweiden. Ich bleibe stehen, atme kurz durch und
konzentriere mich auf einen entspannten Laufschritt. Trotz des verspäteten
Marathon-Hammers drückt von ganz tief innen eine unbändige Freude.
Du hast es geschafft, noch zwei Kehren hinab, ein Pfad zwischen zwei Vorgärten,
das Publikum klatscht und jetzt nur noch die langen 200 Meter bis ins
Ziel. 4:43:18 Stunden, tönt der Streckensprecher, den
ich die letzten vier Kilometer wie ein Durstender das Plätschern
eines Baches belauschte. Ich sauge diesen Augenblick tief in mich hinein. |