Bericht von Testläufer Marco Heinz über
den Berlin Marathon 2006
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][ Marco Heinz ][
Am wilden Eber erreichte die Stimmung den Siedepunkt.
Die Weiten und Hügel, die der Zug von Stuttgart nach Berlin durchfährt,
sind mir nicht mehr fremd, auch von dem Kirchtürmen der großen
Städte durfte ich die allermeisten schon bewundern. Die lange Fahrt
durch vertraute Gegenden schenkt mir ein wohliges Gefühl. Wahrlich
ich habe mich verliebt seit ich hier kreuz und quer per Fahrrad oder zu
Fuß unterwegs war - verliebt in mein Land.
Grandiose Landschaften, üppiges sattes Grün und offene freundliche
Menschen - es ist gut, dass wir uns in diesem Sommer wieder selbst kennengelernt
haben, allerdings hätten wir es auch ohne Fußballweltmeisterschaft
schaffen können.
Dem "Herzen" sprich der Hauptstadt unseres Landes durfte ich
mich auf zwei Arten nähern. Auf dem Fahrrad, einmal aus Lüneburger
Heide und Altmark, einmal aus Lausitz und Spreewald her kommend. Ich genoss
erstmals die große Architektur, spürte aber auch den Asphalt
und den Straßenstaub einer 3.5 Millionen Metropole, bevor die Stadt
mich auspuckte in Richtung Uckermark oder Spree/Oderland, wo ich noch
wahrlich paradiesische Landschaften fand. Grandios war die drei Tage Wanderung
von Rathenow her durchs Havelland, wo der Fluß noch ein Fluß
ist, mit tiefen wilden Uferwäldern, weiten Auwiesen, geheimnisvollen
Tümpeln und verzweigten Nebenarmen. Über Brandenburg und Potsdamm
näherte ich mich Berlin, lief durch tiefen Wald zum Wannsee, tauchte
wieder in den Wald an den von Schlachtensee, Krummer Lanke und Grunewaldsee.
Ganz unvermittelt stand ich im Villenvirtel und war fast schon auf dem
Kurfürstendamm. Der Wnderer hatte einen "grünen Schlüssel"
zu einer Weltmetropole gefunden. Jetzt war mir diese Stadt so richtig
ans Herz gewachsen.
Unter den vielen Gründen Berlin zu lieben nenne ich heute zuerst
die vielen Lungen der Stadt, die Parks und Wasserlandschaften. Und von
ungezählten Besichtigungen und Ausflügen empfehle ich zuvorderst
den nach Köpenick. Du musst vor dem klotzigen Backsteinbau des Rathauses
gestanden haben, um die Geschichte des Hauptmannes von Köpenick so
ganz zu begreifen. Welch ein Mut, welche Verzweiflung muss den Schuster
Willhelm Voigt damals getrieben haben, dieses riesige Haus als falscher
Hauptmann mit echten Soldaten zu erobern. Im Übrigen jährte
sich die berühmte Tat von Köpenick 2006 zum hundertsten Male.
Nach all diesen Erlebnissen, gab es eine Möglichkeit, Berlin nochmals
ganz anders zu erleben - natürlich den Marathon. Ein Mal zumindest
in einem Läuferleben sollte man dort gewesen sein.
So stand ich am 24.9. auf der Straße des 17. Juli unter der größten
Läufermenge, die ich bislang erleben durfte (Wer eine lebhafte Phantasie
hat, möge sich das fast ausverkaufte Gottlieb-Daimler-Stadion von
Stuttgart auf eine breite Straße entleert vorstellen). Alle hoben
die Arme in den strahlend blauen Himmel und klatschten im Tag. Die "Goldelse"
am großen Stern leuchtet in der Sonne. Gelbe Luftballons stiegen
auf, bevor wir auf die Reise gingen -kitschig schön und doch unvergesslich.
Die trügerische Geborgenheit der Masse wurde erstmals ein wenig entlarvt,
als nach wenigen Metern die Siegessäule das Feld in "Rechts-
und Linksherumläufer" trennte. Die Enge der Masse - bei 40000
Läufern gehte es in meinem Leistungsbereich im Mittelfeld über
42 Kilometer zu wie beim Sommerschlußverkauf im Kaufhaus - und die
auch hier verhandene Einsamkeit des Läufers, der jeden Schritt allein
tun muss, ist ein Erlebnis von Phillosophischer Tiefe. Trotzdem glaubst
du wieder besseres Wissen, die klatschende, jubelnde, trötende, tanzende,
lachende Masse von über einer Million Zuschauern könne dich
ins Ziel tragen. Auf den ersten Kilometern durch Moabit fühlt sich
wahrscheinlich noch leicht, der beim einsamen Trainingslauf sagen würde:
"Ich bin ganz mies drauf."
Der neue bombastische Hauptbahnhof, der Reichstag und das Kanzleramt ziehen
im leichten Morgendunst wie Schattenbilder vorbei. Weiter am Osten vor
dem Freidrichsbautheater tanzt wörtlich genommen der Berliner Bär.
Der Geräuschpegel drückt schier auf die Ohren und es wird bis
ins Ziel kaum mehr weniger werden. Von Kilometer zu Kilometer erwärmen
uns nun Rockbands, Orchester oder Rhythmusgruppen. Für all die großen
bunten Bilder des Tages mag ein Detailreiches hier exemplarisch festgehalten
sein. Auf dem eingelassenen Einheitsbalkon eines Wohnblocks tanzt ein
Frau mit knallroten Haaren. Die Dame hüpft wild zwischen den riesigen
Lautsprechern an den Seiten des Balkons hin und her und feuert uns mit
einer Trillerpfeife an. Da ich die Dame auf gut 120 Kilo schätze
habe ich ein bißchen Furcht der Balkon könne brechen. Ein orgineller
Mensch steht zu sich als unbekannte Botschafterin ihrer freundlichen,
weltoffenen Stadt. So manche asketische Läufergestallt hat fröhlich
der beleibten Balkontänzerin gewinkt.
Am wilden Eber bei Kilometer 28 erreicht die Stimmung den Siedepunkt.
Vor geraumer Zeit wollte die Masse Haille Gebreselassie zum Weltrekord
brüllen, jetzt feiern sie sich und uns. Unter dem grünen Alleedach
des Kuhdammes wird der Marathon entgültig zur verdammt ernsten, gemeinsam
einsamen Angelegenheit. Die Gedächtniskirche ist lange Blickfang,
eine gefühlte Ewigkeit dauert es sie zu erlaufen. Das Eindrückliche
Mahnmahl erinnert uns aber, dass wir hier durch große Geschichte
laufen und die Gedanken nicht zu sehr um den Kampf gegen die Uhr kreisen
sollten.
Die moderne Glasarchitektur des Sonycenters, weit bekannt durch die Fernsehübertragungen
der Fußball WM kündigt schon von Zielnähe. Aber von hier
ab wird der Marathon auch auf der flachen ultraschnellen Berlinstrecke
zum Matyrium. Es geht nach Osten zum fernen Fernsehturm am Alexanderplatz.
Und genau von da kommt der böige Wind. Ich werde später gut
verstehen, warum es Haille hier den Wletrekord verblaßen hat. Als
endlich die Wende kommt, ist die Kraft hinweg. "Entspanne dich, laufe
langsam und mach die Augen auf, sauge ein, was du siehst," denke
ich. Wir laufen die ganze Prachtstraße unter den Linden entlang,
eine prächtigere Kulisse mag es bei allen Zieleinläufen dieser
Welt kaum mehr geben. Da ist das Brandenburger Tor, seit vielen Kilometern
hat sich die Vorfreude auf diesen Moment ins schier Unendliche gesteigert.
Ich muss es im Vorüberhuschen berühren, damit ich es glauben
kann. Schließlich habe auch ich noch die Berliner Mauer gesehen
und gehöre zu der Generation, die mit der Ost-West Teilung aufwuchs
und sie für zementiert in alle Ewigkeit hielt. Durch dieses Tor werden
mich immer große Gefühle leiten, mögen noch so viele Jahre
vergehen. Dahinten ist alles so fröhlich und frei, die Zuschauer
auf den Tribünen, der blaue Himmel, die jubelnden Mitläufer.
Die Straße des 17 Juli öffnet sich wie ein Trichter und gehört
uns. Berlin hat sich noch tiefer in mein Herz gebrannt. Der Wanderer und
Radfahrer wird wiederkommen, als Marathonläufer - ganz bestimmt.
Marco Heinz
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