Testläufer berichten über den 33. Berlin Marathon am 24. 09. 2006

Für running-pur waren Testläufer bei dieser Veranstaltung unterwegs. Sie sammelten Eindrücke, blickten hinter die Kulissen, um Ihnen, lieber Leser, ein Bild von der Qualität, dem Ambiente und der Stimmung zu verschaffen. Wollen auch Sie mit einem Freistart in der Tasche den ONLINE-Lesern Ihre Erfahrung übermitteln? Dann klicken Sie hier.

Unsere Empfehlung

TOP-Läufe
Deutschlands


14/15. 10. 2006

19. 5. 2007

 


running-pur ONLINE
Ein Beitrag von running-pur ONLINE

 


Bericht von Testläufer Marco Heinz über den Berlin Marathon 2006

][ zu Testberichten anderer Veranstaltungen ][
][ Marco Heinz ][

Am wilden Eber erreichte die Stimmung den Siedepunkt.

Die Weiten und Hügel, die der Zug von Stuttgart nach Berlin durchfährt, sind mir nicht mehr fremd, auch von dem Kirchtürmen der großen Städte durfte ich die allermeisten schon bewundern. Die lange Fahrt durch vertraute Gegenden schenkt mir ein wohliges Gefühl. Wahrlich ich habe mich verliebt seit ich hier kreuz und quer per Fahrrad oder zu Fuß unterwegs war - verliebt in mein Land.
Grandiose Landschaften, üppiges sattes Grün und offene freundliche Menschen - es ist gut, dass wir uns in diesem Sommer wieder selbst kennengelernt haben, allerdings hätten wir es auch ohne Fußballweltmeisterschaft schaffen können.
Dem "Herzen" sprich der Hauptstadt unseres Landes durfte ich mich auf zwei Arten nähern. Auf dem Fahrrad, einmal aus Lüneburger Heide und Altmark, einmal aus Lausitz und Spreewald her kommend. Ich genoss erstmals die große Architektur, spürte aber auch den Asphalt und den Straßenstaub einer 3.5 Millionen Metropole, bevor die Stadt mich auspuckte in Richtung Uckermark oder Spree/Oderland, wo ich noch wahrlich paradiesische Landschaften fand. Grandios war die drei Tage Wanderung von Rathenow her durchs Havelland, wo der Fluß noch ein Fluß ist, mit tiefen wilden Uferwäldern, weiten Auwiesen, geheimnisvollen Tümpeln und verzweigten Nebenarmen. Über Brandenburg und Potsdamm näherte ich mich Berlin, lief durch tiefen Wald zum Wannsee, tauchte wieder in den Wald an den von Schlachtensee, Krummer Lanke und Grunewaldsee. Ganz unvermittelt stand ich im Villenvirtel und war fast schon auf dem Kurfürstendamm. Der Wnderer hatte einen "grünen Schlüssel" zu einer Weltmetropole gefunden. Jetzt war mir diese Stadt so richtig ans Herz gewachsen.
Unter den vielen Gründen Berlin zu lieben nenne ich heute zuerst die vielen Lungen der Stadt, die Parks und Wasserlandschaften. Und von ungezählten Besichtigungen und Ausflügen empfehle ich zuvorderst den nach Köpenick. Du musst vor dem klotzigen Backsteinbau des Rathauses gestanden haben, um die Geschichte des Hauptmannes von Köpenick so ganz zu begreifen. Welch ein Mut, welche Verzweiflung muss den Schuster Willhelm Voigt damals getrieben haben, dieses riesige Haus als falscher Hauptmann mit echten Soldaten zu erobern. Im Übrigen jährte sich die berühmte Tat von Köpenick 2006 zum hundertsten Male.
Nach all diesen Erlebnissen, gab es eine Möglichkeit, Berlin nochmals ganz anders zu erleben - natürlich den Marathon. Ein Mal zumindest in einem Läuferleben sollte man dort gewesen sein.
So stand ich am 24.9. auf der Straße des 17. Juli unter der größten Läufermenge, die ich bislang erleben durfte (Wer eine lebhafte Phantasie hat, möge sich das fast ausverkaufte Gottlieb-Daimler-Stadion von Stuttgart auf eine breite Straße entleert vorstellen). Alle hoben die Arme in den strahlend blauen Himmel und klatschten im Tag. Die "Goldelse" am großen Stern leuchtet in der Sonne. Gelbe Luftballons stiegen auf, bevor wir auf die Reise gingen -kitschig schön und doch unvergesslich.
Die trügerische Geborgenheit der Masse wurde erstmals ein wenig entlarvt, als nach wenigen Metern die Siegessäule das Feld in "Rechts- und Linksherumläufer" trennte. Die Enge der Masse - bei 40000 Läufern gehte es in meinem Leistungsbereich im Mittelfeld über 42 Kilometer zu wie beim Sommerschlußverkauf im Kaufhaus - und die auch hier verhandene Einsamkeit des Läufers, der jeden Schritt allein tun muss, ist ein Erlebnis von Phillosophischer Tiefe. Trotzdem glaubst du wieder besseres Wissen, die klatschende, jubelnde, trötende, tanzende, lachende Masse von über einer Million Zuschauern könne dich ins Ziel tragen. Auf den ersten Kilometern durch Moabit fühlt sich wahrscheinlich noch leicht, der beim einsamen Trainingslauf sagen würde: "Ich bin ganz mies drauf."
Der neue bombastische Hauptbahnhof, der Reichstag und das Kanzleramt ziehen im leichten Morgendunst wie Schattenbilder vorbei. Weiter am Osten vor dem Freidrichsbautheater tanzt wörtlich genommen der Berliner Bär. Der Geräuschpegel drückt schier auf die Ohren und es wird bis ins Ziel kaum mehr weniger werden. Von Kilometer zu Kilometer erwärmen uns nun Rockbands, Orchester oder Rhythmusgruppen. Für all die großen bunten Bilder des Tages mag ein Detailreiches hier exemplarisch festgehalten sein. Auf dem eingelassenen Einheitsbalkon eines Wohnblocks tanzt ein Frau mit knallroten Haaren. Die Dame hüpft wild zwischen den riesigen Lautsprechern an den Seiten des Balkons hin und her und feuert uns mit einer Trillerpfeife an. Da ich die Dame auf gut 120 Kilo schätze habe ich ein bißchen Furcht der Balkon könne brechen. Ein orgineller Mensch steht zu sich als unbekannte Botschafterin ihrer freundlichen, weltoffenen Stadt. So manche asketische Läufergestallt hat fröhlich der beleibten Balkontänzerin gewinkt.
Am wilden Eber bei Kilometer 28 erreicht die Stimmung den Siedepunkt. Vor geraumer Zeit wollte die Masse Haille Gebreselassie zum Weltrekord brüllen, jetzt feiern sie sich und uns. Unter dem grünen Alleedach des Kuhdammes wird der Marathon entgültig zur verdammt ernsten, gemeinsam einsamen Angelegenheit. Die Gedächtniskirche ist lange Blickfang, eine gefühlte Ewigkeit dauert es sie zu erlaufen. Das Eindrückliche Mahnmahl erinnert uns aber, dass wir hier durch große Geschichte laufen und die Gedanken nicht zu sehr um den Kampf gegen die Uhr kreisen sollten.
Die moderne Glasarchitektur des Sonycenters, weit bekannt durch die Fernsehübertragungen der Fußball WM kündigt schon von Zielnähe. Aber von hier ab wird der Marathon auch auf der flachen ultraschnellen Berlinstrecke zum Matyrium. Es geht nach Osten zum fernen Fernsehturm am Alexanderplatz. Und genau von da kommt der böige Wind. Ich werde später gut verstehen, warum es Haille hier den Wletrekord verblaßen hat. Als endlich die Wende kommt, ist die Kraft hinweg. "Entspanne dich, laufe langsam und mach die Augen auf, sauge ein, was du siehst," denke ich. Wir laufen die ganze Prachtstraße unter den Linden entlang, eine prächtigere Kulisse mag es bei allen Zieleinläufen dieser Welt kaum mehr geben. Da ist das Brandenburger Tor, seit vielen Kilometern hat sich die Vorfreude auf diesen Moment ins schier Unendliche gesteigert. Ich muss es im Vorüberhuschen berühren, damit ich es glauben kann. Schließlich habe auch ich noch die Berliner Mauer gesehen und gehöre zu der Generation, die mit der Ost-West Teilung aufwuchs und sie für zementiert in alle Ewigkeit hielt. Durch dieses Tor werden mich immer große Gefühle leiten, mögen noch so viele Jahre vergehen. Dahinten ist alles so fröhlich und frei, die Zuschauer auf den Tribünen, der blaue Himmel, die jubelnden Mitläufer. Die Straße des 17 Juli öffnet sich wie ein Trichter und gehört uns. Berlin hat sich noch tiefer in mein Herz gebrannt. Der Wanderer und Radfahrer wird wiederkommen, als Marathonläufer - ganz bestimmt.

Marco Heinz